ARTE in der Wohnküche: Doku-Dreh zu „24 Stunden Jerusalem“

Jerusalem, eine Stadt sondergleichen im Brennpunkt von Religionen, Politik und Kulturen, ist Schauplatz der Dokumentation des deutsch-französischen Fernsehsenders ARTE. Die Geschichte eines Tages und einer Nacht im heutigen Jerusalem wird anhand von über 60 Protagonisten erzählt. Meine Mitbewohnerin Marit ist eine von ihnen.

Begleitet wurden am Donnerstag über 60 Protagonisten einen Tag in ihrem Leben, von morgens um 6 Uhr bis zum nächsten Morgen. Die Figuren sind Israelis und Palästinenser, Juden, Muslime und Christen, Immigranten und Alteingesessene, Gläubige und Atheisten. Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Berufen werden authentisch dargestellt. Sowohl Nachtschwärmer als auch Frühaufsteher. Sie alle werden 24 Stunden wirklichkeitsnah durch ihren Alltag begleitet.

Jerusalem – immer ein Politikum
Die Charaktere werden jeweils von gleich vielen israelischen, palästinensischen und europäischen Filmteams begleitet. Bereits im Vorfeld hagelte es in diesem Zusammenhang Kritik von verschiedenen Seiten. Die Dokumentation ist in Jerusalem ein Projekt mit politischer Bedeutung geworden. Von Boykott war die Rede. Der Dokumentarfilm normalisiere die Besatzung der Israelis in den palästinensischen Gebieten. Ein vielschichtiger Artikel der israelischen Tageszeitung Haaretz verdeutlicht die Spannungen und Konflikte in dieser Stadt, die den Dokumentarfilm auch Scheitern lassen hätten können. Das zeigen auch Drohungen von palästinensischer Seite, die in einer Mitteilung des Bayerischen Rundfunks (BR) erläutert werden:

Den palästinensischen Mitwirkenden sei mit Gewalt, gesellschaftlicher Ausgrenzung sowie negativen wirtschaftlichen Folgen gedroht worden, sagte BR-Pressesprecher Christian Nitsche. Einige der im palästinensischen Ostjerusalem geplanten Drehs hätten deshalb sogar abgesagt werden müssen.

Für die protestierenden Palästinenser sei ein solches Projekt inakzeptabel. Sie boykottieren jede Art von Zusammenarbeit mit Israelis. „Wir haben das Möglichste getan, um beide Seiten in gleicher Weise zu berücksichtigen“, sagt Thomas Kufus von der Berliner Produktionsfirma zero one film, die das Projekt in Koproduktion mit dem französischen Partner Alegria umsetzt, in der Pressemitteilung des BR.

Dreharbeiten
Morgens um 7:00 Uhr standen die deutsche Regisseurin mit samt Kameramann, Tontechniker und einem israelischen Assistenten in unserer Wohnküche. Ich wurde „spontan“ nach dem Aufstehen in der Küche mit einem Gutenmorgen-Kaffee zusammen mit Marit gefilmt – übrigens das erste Mal in unserer knapp vierwöchigen gemeinsamen Zeit in der WG. Wir stehen morgens, wegen unterschiedlicher Arbeitszeiten, eigentlich immer alle zu verschiedene Uhrzeiten auf.

Dreh in der Wolhnküche beim kochen

Abends: Dreh in der Wolhnküche beim kochen

Ein Tag im Leben
Nach dieser Szene begleitete das Team Marit an ihrem kompletten Tag in Jerusalem. Dazu gehört die Arbeit in einem Frauenhaus, wo sie vor allem die Kinder der Bewohnerinnen betreut. Daneben besucht sie unter der Woche mehrere ältere Menschen die einen Bezug zum Holocaust haben. Also entweder Überlebende sind oder Deutschland noch rechtzeitig verlassen konnten und inzwischen in Israel leben. In diesem Rahmen besuchte das Team auch den 88-jährigen Jakob Hirsch, der erst im Februar diesen Jahres das Bundesverdienstkreuz „für sein außergewöhnliches Engagement für Aussöhnung und Dialog zwischen Israel und Deutschland“  verliehen bekommen hat.

Über 60 Kamerateams, 24 Stunden, eine Stadt
Bevor es aber los gehen konnte, war einiges zu bewerkstelligen. Denn hinter dem Projekt steht eine organisatorische und logistische Meisterleistung. Einerseits das riesige Team aus Regisseuren, Kameraleuten, Tontechnikern und Assistenten. Aber es mussten natürlich im Vorfeld interessante Charaktere gesucht werden, die damit einverstanden sind, einen Tag lang von einem Kamerateam auf Schritt und Tritt begleitet zu werden. Finanziert wird das Projekt unter anderem von ARTE und dem BR. Der Elektronikkonzern Sony unterstützt das Projekt mit der Bereitstellung von Technik. Das Gesamtbudget war nicht herauszufinden – oder soll vielleicht auch nicht öffentlich kommuniziert werden. Eine subjektive Zahl würde das Projekt aber auch nur verzehrt darstellten. Neben der Bezahlung des Teams, Flug- und Hotelkosten, der Bereitstellung von Mobilität und Equipment wird die Sichtung des Materials wohl einen größeren Teil des Gesamtbudgets einschließen.

Postproduktion
Entstanden sind hunderte Stunden von Filmmaterial, die letztendlich zu einem 24-stündigen Dokumentarfilm verarbeitet werden müssen. Bei „24 Stunden Berlin“ aus dem Jahr 2008, nach dessen Vorbild die Jerusalem-Doku gedreht wird, wurden die entstanden 750 Stunden Material von einem zehnköpfigen Schnitt-Team ein Jahr lang bearbeitet, bis die Endfassung des Films fertig war. So wird die Dokumentation über Jerusalem auch erst im April 2014 ausgestrahlt werden. Das Berlin-Projekt hatte damals übrigens gute Kritiken bekommen. So lobte die ZEIT in ihrer Onlineausgabe:

„Einführung jener Form der Neugier, die der intimitätsversessene vulgäre Voyeurismus der Boulevardmedien und des Trashfernsehens fast vergessen ließ: emphatisch teilnehmende, in jeder Sekunde respektvolle, Würde bewahrende und deshalb poesiefähige Betrachtung.“

Arte in der Wohnküche
Am Abend wurden wir dann alle zusammen beim Kochen in unserer Wohnküche gefilmt, wofür noch zwei israelische Arbeitskollegen von Marit zu uns bekommen sind. Anschließend begleitete uns das Team noch in eine Bar, dem 4:20 (four twenty). Allerdings nicht, ohne dass wir gefühlte zehn mal über eine Straßenampel laufen mussten, damit die Kamera die Szene auch aus verschiedenen Perspektiven einfangen konnte. In der Bar haben wir uns mit ein paar Freunden getroffen, um die Woche entspannt ausklingen zu lassen. Denn in Israel beginnt ja bekanntlich das Wochenende bereits am Donnerstag. Freitag und Samstag (Shabbat) ist Wochenende, dafür der Sonntag dann der erste Arbeitstag der neuen Woche.

Verkehrte Welt: Marit interviewt spontan ihre Regisseurin in der Fußgängerzone

Verkehrte Welt: Marit interviewt spontan ihre Regisseurin in der Fußgängerzone

Nachtleben in der Hauptstadt
Nach der Bar sind wir noch weiter ins Sira, wo der Abend dann samt Kamera auf der Tanzfläche endete. Das Team wollte das bunte, vielseitige und lebendige Jerusalem an diesem Abend einfangen, denn nach einem geläufigen Spruch heißt es:

In Jerusalem wird gebetet,
in Haifa gearbeitet
und in Tel Aviv gefeiert.

Laut Vorgabe der Produktion muss das Filmteam die Protagonisten bis ins Bett bringen, sodass wir aufgeteilt in ein Taxi und das Auto der Crew zurück zu uns in die WG gefahren sind. Der interessante, aber auch anstrengende Tag geht zu Ende. Die ZEIT schrieb damals in ihrem Fazit über die Berlin-Doku, dass das Ergebnis einfach sagenhaft unterhaltsam sei. Wir dürfen also gespannt sein, was genau wir dann in genau einem Jahr auf ARTE zu sehen bekommen werden. 24 Stunden, nonstop und in Echtzeit.

© photos by Matthias Middendorf